Survival-Romane – ein Newsletter
Liebe Lesegemeinde,
Survival-Romane üben eine seltsame Faszination aus. Wenn Menschen von dem leben müssen, was sie in der Natur finden. Wenn Wind, Wetter, Dürre und Kälte zu lebensbedrohlichen Herausforderungen werden. Wenn Grenzsituationen zu einem erweiterten Bewusstsein führen … Ist es die Furcht um Leib und Seele, die uns anzieht, oder ist es das Staunen über die Wucht der Natur, die sich, in unserem Leben nahezu vollständig ignoriert, in einer fiktionalen Begegnung unvorstellbar gewaltig entfaltet …? Hinzu kommt: Warum sind es so oft die ganz Jungen und die ganz Alten, die von ihren Dichtern in Extremsituationen geschickt werden …?!
Sei es die Bedrohung, sei es die Erlösung, vielleicht gar die Erleuchtung – mit nachfolgenden Titeln können Sie Ihre Reaktionen auf alltagsferne Umstände selbst testen.
Michael Crummey: Die Unschuldigen. Roman 2020
Neufundland, im 18. Jahrhundert. Evered und seine jüngere Schwester Ada wachsen unter kargen Bedingungen auf. Sie sind die Kinder von Fischern, wortkarge Menschen, die isoliert inmitten der kanadischen Wildnis leben. Als ihre Eltern sterben, sind die Geschwister auf sich allein gestellt; sie wissen nur das von der Welt, was sie von Mutter und Vater gelernt haben. Also führen sie deren hartes Leben nach Kräften weiter. Bis die Loyalität der Geschwister auf die Probe gestellt wird und sie für ihre Zukunft kämpfen müssen … – Nach einer wahren Geschichte.
Warum soll ich das lesen?
Der Reiz dieser Erzählung liegt in der Tragik unglücklicher Umstände: der äußerste Zipfel Kanadas, fast das ganze Jahr über Schnee und Eis, eine Familie beinahe gänzlich ohne Kontakt zur Außenwelt – und dann sterben unglücklicherweise beide Eltern. Die Geschwister sind elf und acht. Es vergehen etliche Jahre. Wie werden sich wohl diese beiden „Unschuldigen“ entwickeln …?! – Beklemmend und ungewöhnlich.
Gabriel Tallent: Mein Ein und Alles. Roman 2020
Nach dem frühen Tod ihrer Mutter wächst Turtle Alveston abgeschieden in den nordkalifornischen Wäldern auf. Ihr Vater, eine charismatische aber schwer gestörte Persönlichkeit, unterrichtet sie im Umgang mit Waffen und lehrt sie Misstrauen gegenüber der zivilisierten Welt. Mit 14 ist sie geübt im Überleben in der Natur, hingegen weitgehend ahnungslos im Umgang mit anderen Menschen. Erst als sie ihren Mitschüler Jacob näher kennenlernt und wahre Freundschaft erfährt, beginnt sie, sich gegen ihren Vater aufzulehnen. Zu spät erkennt sie, dass sie dadurch sich selbst und andere in Lebensgefahr bringt …
Warum soll ich das lesen?
Dieses Buch ist nichts für schwache Nerven. Man muss einiges aushalten; man muss Sätze lesen, die weh tun und kaum zu ertragen sind. Ich kenne Leser, die die Lektüre abgebrochen haben. Und doch strahlt die Geschichte eine enorme Bannkraft aus, die aus der Erzählperspektive des Mädchens resultiert. Turtle ist weltfremd, aber nicht naiv. Sie ist ein Opfer, aber gleichzeitig tough. Wie sie zu begreifen beginnt, wo sie im Leben steht und welche Konsequenzen zu ziehen sind, ist großartig erzählt, sensibel und distanziert zugleich. – Ein weiterer Grund, warum Sie sich dieses Hörbuch ausleihen sollten: die Sprecherin, Anna Thalbach!
Suzanne Collins: Die Tribute von Panem – Tödliche Spiele
Roman 2009. Teil 1 einer Trilogie
Die Welt, wie wir sie kennen, existiert nicht mehr. Kriege und Naturkatastrophen haben das Land zerstört. Aus den Trümmern ist Panem entstanden, unterteilt in zwölf Distrikte, geführt von einer unerbittlichen Regierung. Alljährlich werden grausame Spiele ausgetragen, die sogenannten Hungerspiele – eine öffentliche Survival-Jagd auf wildem Terrain, in der sich die Teilnehmer gegenseitig eliminieren müssen. Für die diesjährige Teilnehmerin des 12. Distrikts, die 16-jährige Katniss Aberdeen, könnten die Chancen kaum schlechter stehen: Erst ein Mal zuvor in der Geschichte hat es einen Sieger aus ihrem Distrikt gegeben, dem ärmsten im ganzen Verbund. In der Arena zeigt sich jedoch, dass sie gegenüber ihren Kontrahenten einen entscheidenden Vorteil mitbringt …
Warum soll ich das lesen?
Ich habe dieses Buch seinerzeit im Juli gelesen, im lauschigen Garten meiner Eltern sitzend, anfangs noch als spannende Sommerlektüre. Dass ich zunehmend nicht mehr ansprechbar war, lag vor allem an der unerwartet expliziten Darstellung von Gewalt. Ja, man bekommt einen Survival-Roman, in dem eine clevere junge Frau Brennholz sammeln, ihre Nahrung mit Pfeil und Bogen erlegen und Wunden mit Wildkräutern behandeln muss. Aber man bekommt auch ein Gemetzel. Und das ist deshalb so atemberaubend, weil es mit einer beispiellosen Gleichgültigkeit daherkommt, noch dazu in einer Geschichte mit jugendlichen Protagonisten. Man staunt. Man ist entsetzt.
Wer kann, lese am besten das englische Original. Nichts gegen die deutsche Übersetzung, aber Collins´ Prosa ist ein fesselndes Erlebnis, und gut verständlich. Band 2 und 3 kann man danach noch lesen, muss man aber nicht. Die Auftaktstory ist die beste!
Jean Hegland: Die Lichtung.
Roman 2004
Die Schwestern Nell und Eva, 17 und 18, leben weit außerhalb am Waldrand. Wie betäubt vom Tod ihrer Eltern realisieren sie zunächst nicht, was um sie herum geschieht. Nachrichten von Krieg und Seuchen kommen. Bald gibt es keinen Strom, keine Lebensmittel mehr. Nell und Eva sind von der Welt abgeschnitten. Gemeinsam müssen sie ihren Weg suchen, um zu überleben.
Warum soll ich das lesen?
Die Apokalypse ist hier Nebensache. Überaus interessant dagegen sind die Bemühungen der beiden Frauen, mithilfe ihrer Vorräte, Nutztiere und geschwisterlicher Einheit eine Grundversorgung zu gewährleisten. Endgültig fasziniert ist die Leserin, wenn es infolge der erzwungenen Symbiose zu einem biologischen Wunder kommt – das ich hier nicht verraten möchte. Unbedingt lesenswert.
Andy Weir: Der Marsianer
Roman 2014
Bei einer Expedition auf dem Mars gerät der Astronaut Mark Watney in einen Sandsturm und wird bewusstlos. Als er aus seiner Ohnmacht erwacht, ist er allein. Auf einem anderen Planeten. Ohne Nahrung. Ohne Ausrüstung. Und ohne Crew, denn die ist bereits auf dem Weg zurück zur Erde. Für Mark Watney beginnt ein spektakulärer Überlebenskampf …
Warum soll ich das lesen?
Vielleicht mögen Sie kein SF. Das ist aber kein Hindernis, denn hier werden weder die unendlichen Weiten des Weltraums erforscht, noch befinden wir uns in einer fernen Zukunft. Die Handlung könnte auch auf einer einsamen Insel spielen, in einer Wüste oder der Arktis. Denn: Es geht schlicht um einen Überlebenskampf (Robinson Crusoe nicht unähnlich). Nur dass der Protagonist von Beruf Biologe ist, haufenweise raffinierte Ideen hat und wunderbar zynisch Tagebuch zu führen weiß. „Dieser verdammte Planet will mich umbringen!“ schreibt er beispielsweise, und man sorgt sich nicht allzu sehr um ihn … Köstlich.
Hernán Díaz: In der Ferne
Roman 2021
Amerika, zu Zeiten des Goldrauschs. Dies ist die Geschichte von Håkan, der als Kind aus der schwedischen Heimat über den Ozean geschickt wird, zusammen mit seinem großen Bruder, den er aber unterwegs verliert. Statt in New York landet er in San Francisco, auf der falschen Seite des unbekannten Kontinents. Fest entschlossen, den Bruder zu finden, macht er sich zu Fuß auf den Weg, entgegen dem Strom der Glückssucher und Banditen, die nach Westen drängen, hin zum neuen gelobten Land. Noch ahnt Håkan nicht, dass er das gesamte Spektrum an Gewalt, Verrat, Entbehrung, Einsamkeit und Verzweiflung erleben wird, das die damalige Zeit zu bieten hatte. Und vor allem, dass er sein ganzes Leben lang unterwegs sein wird …
Warum soll ich das lesen?
In dieser Geschichte schleppt sich alles dahin: die Goldsucher, die Karawane, der Protagonist, der Esel, das Pferd, die Tageszeiten, die Jahreszeiten, das Leben. So wie auch ich gerade bedient sich der Autor mit Vorliebe des Stilmittels der Aufzählung und der Wiederholung – mit verblüffendem Effekt. Eingelullt von der Eintönigkeit seines Überlebenskampfes fühlt man intensiv mit diesem Jungen, der zum Mann und schließlich zum Greis wird, ohne dabei hin und wieder Gelegenheit zu haben, sich selbst im Spiegel zu sehen.
Jesús Carrasco: Die Flucht
Roman 2013
Ein Junge flieht. Die Schreie seiner Jäger verfolgen ihn. Tagsüber kauert er in einem staubigen Versteck, nachts kämpft er sich in der Dunkelheit vor. Auf seiner Flucht durch die karge, ausgedörrte Landschaft trifft er einen alten Ziegenhirten. Inmitten einer von Misstrauen geprägten Welt ohne Moral oder Menschlichkeit entsteht ein ungewöhnliches Band zwischen den beiden. Der Junge, der nichts kennt als Angst vor der Hitze, vor anderen Menschen und dem Tod, lernt gegenseitige Verantwortung und Rücksichtnahme kennen. Doch als die Verfolger sie einholen, kämpfen er und der alte Mann nicht mehr für Gerechtigkeit, sondern einzig um ihr Überleben.
Warum soll ich das lesen?
Mit diesem Buch können Sie Entschleunigung praktizieren. Wo Ihr Alltag möglicherweise hektisch, laut und reizüberflutet ist, begegnen Sie hier einer kargen, farblosen Landschaft, flirrender Stille, unwirtlichen Elementen. Der Getränke-Lieferdienst verspätet sich mal wieder? Hier verbringen Sie Ihren gesamten Tag und die halbe Nacht damit, eine Wasserquelle zu suchen. Angst vor dem Zahnarzt ist eine lästige Unterbrechung Ihres Seelenfriedens? In Carrascos Welt kriechen Sie um Ihr Leben, leiden dauerhaft Hunger und begegnen eine Ewigkeit lang keinem lebendigen Wesen. … Eine Mischung aus Abenteuerroman und literarischer Parabel, atmosphärisch, minimalistisch, warmherzig.
Tim Winton: Die Hütte des Schäfers
Roman 2019
Ein ödes Kaff in Westaustralien. Mit 15 Jahren ist Jaxie plötzlich allein auf der Welt, die Mutter lange tot, und der gewalttätige Vater, nun ja, hatte einen Unfall. Aber wahrscheinlich wird ihm niemand glauben, dass er seinen Dad nicht selbst umgebracht hat. Also läuft er davon, weg von den Menschen, immer Richtung Norden, direkt hinein in die heiße, wasserlose Salzwüste – eine tödliche Gefahr für jeden, der sich dort nicht auskennt. Mitten im Nirgendwo, am Ende seiner Kräfte, stößt Jaxie auf einen einsamen alten Mann in einer verlassenen Schäferhütte. Und obwohl sein Leben von ihm abhängt, weiß er lange nicht, ob er ihm trauen kann …
Warum soll ich das lesen?
Das lesen Sie, wenn Sie nach Carrascos Roman noch nicht wieder in Ihre Wirklichkeit zurückkehren möchten. Mit Jaxie kommen Sie der Realität allerdings wieder etwas näher. Es wird mehr gesprochen, geflucht und Nahrung aufgenommen, und auch das Gesamtunternehmen erscheint nicht ganz so hoffnungslos. Anderes Setting, moderneres Personal, ähnliche Botschaft
Velma Wallis: Zwei alte Frauen. Eine Legende von Verrat und Tapferkeit.
Roman 1994
Ein Nomadenstamm im hohen Norden von Alaska: Während eines bitterkalten Winters kommt es zu einer gefährlichen Hungersnot. Wie das Stammesgesetz es vorschreibt, beschließt der Häuptling, die beiden ältesten Frauen als „unnütze Esser“ zurückzulassen, um den Stamm zu retten – wohl wissend, dass es ihren Tod bedeuten würde. Doch in der Einsamkeit der eisigen Wildnis geschieht das Unglaubliche: Die beiden alten Indianerfrauen geben nicht auf, sondern besinnen sich auf ihre ureigenen Fähigkeiten, die sie längst vergessen geglaubt hatten …
Warum soll ich das lesen?
Dieses kleine Buch ist ein Mutmacher in dunklen Zeiten: eine Einladung zur Rückbesinnung auf die eigenen Stärken, auf natürliche Resilienz, auf die Kraft aus Zusammenhalt. Und eine Erinnerung daran, dass alles eigentlich eins ist – die Natur, der Mensch, die liebende Güte.
Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse
Roman 2019
Kya Clark ist sechs Jahre alt, als ihre instabile Familie zerbricht und sie in der Einsamkeit des Marschlandes von North Carolina allein zurückgelassen wird. Fortan lebt sie, das „Marschmädchen“, unter einfachsten Bedingungen und kämpft um jede Mahlzeit. Sie beobachtet die Seevögel, die Fische, Pflanzen und die Muscheln am Ufer. Mit Menschen hat Kya nur wenig Kontakt, sie sind ihr fremd, und nur dank eines Jugendfreundes ihres Bruders lernt sie Lesen und Schreiben. Mit den Jahren reift sie zur Künstlerin, zeichnet und dichtet. Dann lernt sie Chase Andrews kennen und lieben, kann ihr Misstrauen gegenüber Menschen jedoch nie ganz ablegen. Als Chase tot aufgefunden wird, steht Kya für die Bewohner des nahen Küstenortes als Verdächtige fest …
Warum soll ich das lesen?
Wegen der hinreißenden Naturschilderungen. Nehmen Sie dafür ein eventuelles Zuviel an Rührseligkeit und seichtem Kitsch in Kauf; es lohnt sich. Auch ein Kriterium: der immense Welterfolg dieses Buches. Seit 2019 wurden allein von der deutschsprachigen Hardcover-Ausgabe über 500.000 Exemplare verkauft. Mit unserer Titelnummer 52244 haben Sie Gelegenheit, sich selbst ein Urteil zu bilden.
Mit diesen Empfehlungen wünsche ich Ihnen einen unterhaltsamen Start ins Lesejahr 2022. Ich darf Sie außerdem noch auf die nächste Online- und Telefonlesung am 25. Februar aufmerksam machen. Unser Sprecher Klaus Haderer wird für Sie einmal mehr eine Kostprobe seiner Intonationskunst anhand von bayerischem Kriminalschmarrn zum Besten geben. Details zu den Teilnahmemöglichkeiten werden wir rechtzeitig folgen lassen.
Herzlich
Ihre Sonja Schikowski
Bayerische Hörbücherei, im Januar 2022